Weihnachtsgeschichte 2016
Eigentlich geht es
Hannelore gut. Sie ist mit ihrer Jugendliebe verheiratet, hat zwei
Kinder, die inzwischen schon sehr selbständig sind und wenn man sie
fragt wie es ihr mit ihrem Hans geht, dann antwortet sie immer: “Wir
lieben uns wie am ersten Tag”.
Und
trotzdem fragt sie sich immer öfter: “War das jetzt mein Leben”. Mit
Mitte 50 fühlt sie sich noch gut. Sie achtet sehr auf ihre Gesundheit
und macht regelmäßig ausgiebige Spaziergänge. Das ist für sie eine große
Kraftquelle um immer für ihre Familie da zu sein, Tag und Nacht. Während
der ganzen Jahre war ihre einzige Motivation, dass es ihrer Familie gut
geht. Und das hat sie sehr gut geschafft.
Aber
jetzt fühlt sie sich immer öfter sehr einsam. Soviel für die Familie
getan zu haben und jetzt ganz alleine zu sein, das hätte sie sich nie
vorstellen können. Die Kinder sind aus dem Haus und Hans ist durch seine
Karriere mit seiner Firma verheiratet, wie sie manchmal gegenüber ihrer
besten Freundin bemerkt.
In ihrer
Familie ist sie als einzige Tochter bei ihren Eltern aufgewachsen. Schon
als Kind hat sie sich immer darum gekümmert, dass es ihren Eltern gut
geht. Wenn die sich manchmal gestritten haben, dann war das für sie
unerträglich und mit einer ganz großen Angst verbunden. Eine Trennung
der Eltern wäre für sie das schlimmste was sie sich vorstellen konnte.
Nicht dass Hannelore das nicht verkraftet hätte, aber die Mutter dann
ganz alleine zu sehen in ihrem Leid, das wäre für sie nicht aushaltbar
gewesen. Deshalb war ihr größtes Anliegen, dass Mama und Papa nie
streiten sollen. So fühlte sie sich sicher und geborgen bei ihrer
Familie. Diese Strategie gab ihr scheinbar recht. Ihre Eltern gehen auf
achtzig zu und sind immer noch beisammen. Auch heute hat sie mit ihren
Eltern noch mehrmals in der Woche telefonischen Kontakt. Es ist für sie
selbstverständlich, dass sie immer für Andere da ist. Das gibt ihr die
Sicherheit, dass sie alles getan hat für eine gute Beziehung.
Hannelore
hat eine beste Freundin. Das Gemeinsame ihrer Freundschaft ist, dass
beide die gleiche Maxime haben: Für Andere da zu sein. Manchmal lässt
ihre Freundin durchblicken, dass sie sich sehr alleine fühlt, obwohl sie
doch alles für die Familie tut. In solchen Situationen sagt Hannelore
ganz klar: „Das ist bei mir ganz anders, meine Kinder sind immer für
mich da“. Sie hat den Satz noch nicht ganz zu Ende gesprochen, da wird
ihr plötzlich bewusst, dass es ihr große Angst bereitet, einmal im Alter
ganz alleine zu sein. Und sie fühlt sich ja heute schon so alleine,
obwohl sie fast täglich mit ihren Kindern telefoniert.
In so
einer Situation überfällt Hannelore eine tiefe Traurigkeit. Wenn nur
alle Menschen so wären wie sie, dann wäre das Leben viel leichter. Sie
hat keine Ansprüche an das Leben, sie möchte einfach nur für andere da
sein. Aber die Kinder sind groß und selbständig. Für wen soll sie noch
da sein? Hans kommt immer ziemlich geschafft aus dem Büro und zieht sich
am liebsten nach dem Abendessen zurück.
Eine
große Leere macht sich in ihr breit. Hannelore hält es zu Hause nicht
mehr aus und macht einen ausgiebigen Spaziergang, um darüber
nachzudenken, wie es bei ihr weitergehen soll. Ihr Weg führt sie durch
ein Waldstück zu einer kleinen Kapelle. Hier geschieht für Hannelore
etwas Seltsames. Auf einmal spürt sie eine große Kraft und Stärke.
Geborgen im Innenraum dieser Kapelle gehen ihr viele Gedanken durch den
Kopf. Sie sieht sich als junges Mädchen wie sie im Chor gesungen hat.
Singen war ihre große Leidenschaft.
Durch die
jahrelange Verpflichtung der Familie gegenüber, hat sie dieses Hobby nie
ausleben können und ein großer Wunsch steigt in ihr hoch wieder zu
singen. Zweifel machen sich in ihr breit. Darf sie das auch? Ein Hobby
für sich ganz alleine haben? Sowohl erfüllt als auch zweifelnd tritt
Hannelore den Rückweg an und kommt zu der Entscheidung, dass sie sich im
Chor anmeldet.
Dort
wurde sie als neues Mitglied gleich gut aufgenommen. Die Proben für das
Weihnachtsoratorium haben bereits begonnen. Hannelore spürt beim Singen
wieder ihre ganze Kraft und Freude breitet sich in ihr aus. An der
Weihnachtsaufführung singt sie mit. Hans und ihre Kinder sind unter den
Besuchern und Hannelore fühlt sich in diesem Moment ihrer Familie so nah
wie schon lange nicht mehr.